CLUE Computerlinguistik Uni Erlangen

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5.1.3. Das Auxiliar werden und ein Partizip II

Präsens Indikativ Vorgangspassiv
Präsens Konjunktiv I Vorgangspassiv
Präteritum Indikativ Vorgangspassiv
Präteritum Konjunktiv II Vorgangspassiv
Das vollständige Paradigma der Verben wird in die beiden Genera Aktiv und Passiv unterteilt. Es gibt also zu jeder Aktivform eine Passivform. 77 Diese wird durch die Auxiliarkonstruktionen gebildet, welche jetzt behandelt werden sollen: Das Passivparadigma selbst wird wieder in Vorgangs- und Zustandspassiv unterteilt, aber in diesem Kapitel wird zunächst das Passiv allgemein und das Vorgangspassiv im besonderen besprochen. Das Zustandspassiv wird dann in dem folgenden Kapitel 2.2.1.4. beschrieben.

Obwohl es also mehr Passiv- als Aktivformen gibt, ist deren Vorkommen in Texten der deutschen Sprache ungleich verteilt. Auf das Aktiv entfallen nach der Dudengrammatik im Durchschnitt 93% der finiten Verbformen. Daher bezeichnet man das Aktiv in Bezug auf das Genus verbi auch als die unmarkierte, das Passiv als die markierte Form. 78

Das Genus verbi ist eine grammatische Kategorie des Verbs, die sich auf den gesamten Satzinhalt auswirkt. Man versteht darunter die Art und Weise, wie in einem Satz die Beziehung von Subjekt, Prädikat und Objekt durch den Verbalkomplex wiedergegeben wird. 79

Aber nicht von allen Verben können Passivkonstruktionen gebildet werden, und die verwendeten Grammatiken geben verschiedene Kriterien dafür an, welche Verben ein Passiv bilden können und welche nicht. 80 Da dies aber eine Frage der Bedeutung des Verbs ist und für jedes Verb einzeln angegeben werden muß, ist es ein Thema der Semantik und der Morphologie und keines der Syntax. Ich lasse in dieser Arbeit daher Passivformen von allen Vollverben, Infinitivmitzuverben und Infinitivverben zu, und verbiete sie generell bei den Auxiliaren, Modalverben und Partizipverben.

Das auffälligste Merkmal bei der Überführung von Aktivsätzen ins Passiv ist die Umwandlung bestimmter Ergänzungen. Nach Eisenberg gibt es dabei eine allgemeine Darstellung für das Deutsche. Das Subjekt (Nominativergänzung) des Aktivsatzes wird zu einem fakultativen Präpositionalobjekt im Passivsatz. Das direkte Objekt (Akkusativergänzung) wird zum Subjekt des Passivsatzes (Karl verteilt die Beute. <=> Die Beute wird von Karl verteilt.). Kommen im Aktivsatz noch andere Ergänzungen vor, so bleiben sie im Passivsatz erhalten. Wenn im Aktivsatz kein direktes Objekt (Akkusativergänzung) vorkam, wird das Subjekt des Passivsatzes weggelassen oder durch das unpersönliche es ersetzt (Viele appellieren an die UNO. <=> An die Uno wird von vielen appelliert., Es wird von vielen an die UNO appelliert.). 81

Die Dudengrammatik unterteilt die Sätze ohne direktes Objekt (Akkusativergänzung) in solche mit anderen Ergänzungen (Sie graben nach Kohle. <=> Nach Kohle wird von ihnen gegraben., Es wird von ihnen nach Kohle gegraben.) und solche, die keine Ergänzungen haben (Die Griechen tanzen. <=> Von den Griechen wurde getanzt. Es wurde von den Griechen getanzt.). 82

Helbig/Buscha unterscheiden sogar vier Typen von Passivtransformationen. Erstens den, in dem das Subjekt (Nominativergänzung) zum fakultativen Präpositionalobjekt, und das direkte Objekt (Akkusativergänzung) zum Subjekt wird, während andere Ergänzungen erhalten bleiben (Der Lehrer schenkt dem Schüler das Buch. <=> Das Buch wird dem Schüler vom Lehrer geschenkt.). Zweitens den, in dem das Subjekt (Nominativergänzung) zum fakultativen Präpositionalobjekt wird, während andere Ergänzungen erhalten bleiben (Wir helfen dem Lehrer. <=> Dem Lehrer wird von uns geholfen.). Das direkte Objekt (Akkusativergänzung) tritt nicht auf, und der Passivsatz bleibt subjektlos. Drittens den, in dem das Subjekt (Nominativergänzung) das einzige Satzglied ist und zum Präpositionalobjekt wird. Auch hier tritt kein direktes Objekt auf, aber es wird das Pronomen es als Subjekt des Passivsatzes eingesetzt (Die Zuschauer klatschen. <=> Es wird von den Zuschauern geklatscht.). Viertens den, in dem das Subjekt (Nominativergänzung), welches das einzige Satzglied ist und durch man repräsentiert wird, wegfällt. Hier wird auch das Pronomen es als Subjekt des Passivsatzes eingesetzt (Man tanzt. <=> Es wird getanzt.). 83

Engel unterscheidet nur die beiden Typen volles und neutrales Passiv. Beim vollen Passiv wird aus der Akkusativgröße des Aktivsatzes die Subjektgröße des Passivsatzes. Das Aktivsubjekt kann getilgt werden oder als eine fakultative präpositionale Ergänzung im Passivsatz wieder auftauchen (Mein Nachbar hat eine Hütte gebaut. <=> Eine Hütte ist gebaut worden., Eine Hütte ist von meinem Nachbarn gebaut worden.). Das neutrale Passiv zeichnet sich dadurch aus, daß es nie ein Subjekt besitzt, und daß das finite Verb immer in der 3. Person Singular steht (Hier wird nicht geraucht.). 84

Auch zur Funktion des Passiv gibt es unterschiedliche Meinungen. So hält Eisenberg die Möglichkeit, das Agens zu eliminieren für eine wesentliche Funktion des Passivs. Entweder wird es nicht genannt, weil es unbekannt ist, weil es verschwiegen werden soll, oder weil es im restlichen Text schon sehr häufig vorkam. Das Agens kann aber dadurch, daß es trotzdem genannt wird, auch besonders hervorgehoben werden. 85

Nach Helbig/Buscha ist das Aktiv keine 'Tätigkeitsform' und das Passiv keine 'Leidensform', sondern ist im Gegensatz zum Passiv agensorientiert. Das Agens ist in Aktivsätzen obligatorisch, wohingegen es in Passivsätzen fakultativ ist und auch meist weggelassen wird. Die Funktion des Passiv ist es also, eine nicht agensorientierte Ausdrucksform zur Verfügung zu stellen, die häufig in wissenschaftlichen Texten verwendet wird. 86

Nach Engel gibt es das werden- oder Vorgangspassiv, damit man einen Sachverhalt als geschehensbezogen und im Verlauf befindlich darstellen kann. 87

Van der Elst bezeichnet das Passiv als die 'täterabgewandte' Alternative zum Aktiv, mit deren Hilfe sich konkrete Handlungen indirekt als Ereignisse darstellen lassen. Man hat damit auch die Möglichkeit, das Agens zu verschweigen, es in den Hintergrund zu drängen oder es besonders hervorzuheben. Eine weitere Funktion besteht darin, textstrukturierend auf der Thema-Rhema-Ebene zu wirken, weil das Agens damit 'entthematisiert' und andere Satzglieder 'thematisiert' werden können. 88

Nach der Dudengrammatik dient das Passiv primär der Ausdrucksvariation. Es wird besonders in wissenschaftlichen Arbeiten, Gesetzestexten oder Gebrauchsanweisungen verwendet. 89

Wenn das Agens im Passivsatz genannt werden soll, dann kommt es dort in der Form einer fakultativen Präpositionalergänzung vor, die mit von oder durch eingeleitet wird. Welche der beiden Präpositionen gewählt wird, ist eine Frage der semantischen Interpretation des Agens, oder des dargestellten Geschehens. 90 Helbig/Buscha lassen in bestimmten Fällen auch noch andere Präpositionen zu. 91

Ich werde hier in allen Passivformen einen Agensanschluß zulassen, dabei aber nur die beiden Präpositionen von und durch berücksichtigen. Wenn die Präposition von gewählt wird, dann kann sie auch mit dem Artikel der Präpositionalergänzung verschmolzen werden (Das Schiff wird von dem Mann gesegelt. <=> Das Schiff wird vom Mann gesegelt.).

Das Präsens Indikativ Vorgangspassiv wird gebildet, indem das finite Auxiliar werden im Präsens Indikativ Aktiv mit dem Partizip II eines Vollverbs verbunden wird. Das Präsens Konjunktiv I Vorgangspassiv, das Präteritum Indikativ Vorgangspassiv und das Präteritum Konjunktiv II Vorgangspassiv werden entsprechend gebildet, indem das finite Auxiliar werden im Präsens Konjunktiv I Aktiv, im Präteritum Indikativ Aktiv oder im Präteritum Konjunktiv II Aktiv mit dem Partizip II eines Vollverbs verbunden wird. In den nachfolgend aufgeführten Sätzen steht das finite Auxiliar werden im Präsens Indikativ Aktiv. Ohne daß eine Änderung in der Analyse auftreten würde, könnte es auch im Präsens Konjunktiv I Aktiv, Präteritum Indikativ Aktiv oder Präteritum Konjunktiv II Aktiv stehen.

1. Kernsatz
Das Schiff wird von den Menschen gesegelt.
2. Kernsatz mit topikalisierter Präpositionalergänzung
Von den Menschen wird das Schiff gesegelt.
3. Kernsatz mit topikalisiertem infinitem Verb
Gesegelt wird das Schiff von den Menschen.
4. Stirnsatz
Wird das Schiff von den Menschen gesegelt?
5. Spannsatz
..., daß das Schiff von den Menschen gesegelt wird!


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